ADHS bringen viele mit Konzentrationsschwäche und Defiziten in Verbindung – tatsächlich arbeiten viele Betroffene in Hochleistungsjobs. Warum sie auch außergewöhnlich gute Führungskräfte sein können, erklärt ein ADHS-Forscher.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gehört zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Experten schätzen die Prävalenz auf etwa 5 Prozent – und bis zu 70 Prozent der Betroffenen weisen einen chronischen Verlauf mit Symptomen über die gesamte Lebensspanne auf.
WirtschaftsWoche: Herr Lachenmeier, Sie haben selbst ADHS, das wurde allerdings erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie von Ihrem ersten Gymnasium geflogen sind, im nächsten dann Klassenprimus waren. Wie kam es dazu?
Heiner Lachenmeier: Das wirkt paradox, oder? Aber da sind wir schon bei einem zentralen Thema, das bei ADHS eine riesige Rolle spielt: nämlich persönliche Beziehungen. Sie wirken wie eine Trägersubstanz. Nicht nur das Verhältnis zu den Lehrpersonen und Mitschülern, auch das zur Institution Schule selbst war bei mir entscheidend. Mein erstes Gymnasium war sehr elitär. Wir wurden viel darauf hingewiesen, dass wir mal eine führende Rolle in der Gesellschaft einnehmen würden. Das intellektuelle Niveau war dann aber mehr Auswendiglernen. Das hat mir nicht eingeleuchtet und ich habe rebelliert und Mist gebaut, bis ich von der Schule geflogen bin. Das ist bei ADHS ja auch oft der Fall.
Und im nächsten Gymnasium war es dann besser?
Ja! Dort herrschte eine andere Philosophie, es ging darum, wie man denken lernt, um Denkmodelle und Dinge zu hinterfragen. Ich war dort fasziniert und konnte meine Intelligenz auch nutzen. Genauso war es später im Studium. Das ist typisch für ADHS. Sowohl in Lehr- als auch in Studienberufen ist es häufig so, dass Personen in der Schule erst nur mäßige Leistungen erbrachten. In dem Moment, in dem sie einen Lehrberuf oder ein Studium wählen, dass sie interessiert, erbringen sie plötzlich Hochleistungen. Das ist phänomenal.
Zur Person
Heiner Lachenmeier ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und erforscht schwerpunktmäßig ADHS bei Erwachsenen. Er hat an der Universität Zürich promoviert. Bei Lachenmeier selbst wurde ADHS erst im mittleren Alter diagnostiziert. Er ist Autor des Sachbuchs „Mit ADHS erfolgreich im Beruf“ und leitet eine Facharztpraxis.
Erklären Sie doch mal in aller Kürze die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten einer ADHS.
Es gibt zwei Hauptmodelle der ADHS. Zum einen das sogenannte Filtermodell, da geht es um das Übermaß an Daten, das ungefiltert auf Betroffene einströmt. Dadurch entsteht dieser Datennebel, von dem Menschen mit ADHS häufig berichten. Wenn zu diesem Nebel noch Kritik hinzukommt, kann das wie ein „atomarer“ Angriff erscheinen. Man sieht sich vermeintlich völlig unfähig. In solchen Momenten leiden Menschen mit ADHS massiv und verteidigen sich gelegentlich übermäßig. Und dann gibt es noch das Steuerungsmodell, dabei geht es um exekutive Funktionen wie Konzentration, Fokussierung und Wahrnehmung, aber auch um die Impulssteuerung und sogenannte Organisationsfunktionen. All diese Funktionen sind bei Personen mit ADHS keineswegs defizitär, sondern es ist vereinfacht gesagt an gewisse Bedingungen geknüpft, sie anzusteuern.
Sie haben ein Buch über ADHS im Job geschrieben. Direkt im Vorwort heißt es, dass Sie das Buch im Gesprächston halten, um die Dauer der Aufmerksamkeit zu erleichtern. Das gebiete die Höflichkeit bei einem Buch über ADHS, führen Sie aus. Warum ist das so wichtig?
Diese Frage leitet schon zu einem der wesentlichen Punkte bei ADHS über: Nämlich, dass bei betroffenen Personen zu viele Daten ankommen, das ist eine neurobiologische Kondition. Wenn diese Datenflut dann jemanden nicht sonderlich interessiert, schweifen sie schnell ab – und ein Gesprächston hilft dagegen. Das funktioniert natürlich auch im direkten Gespräch, wenn beispielsweise eine Führungskraft mit Beschäftigten spricht. Klare und eindeutige Aussagen sind bei ADHS sehr wichtig. Was ist mein Job? Was ist genau die Aufgabe, die ich jetzt zu tun habe – nicht die morgige oder generell. Und auch die Beziehungsebene als Trägersubstanz, die ich eingangs erwähnte, ist ganz entscheidend. Spricht man mit einem Mitarbeiter oder einer Führungskraft mit ADHS, sind konkrete Botschaften eingebettet in die Beziehungsebene wichtig, damit der- oder diejenige die Konzentration fokussieren kann. Dann ist die Chance, dass die Botschaft präzise ankommt, sehr hoch.
Jobantritt und ADHS: Tipps vom Experten
Experte Heiner Lachenmeier rät, sich vorab mit banalen Umständen des neuen Arbeitsorts vertraut zu machen. Das reduziere vorab die Unsicherheit und schafft Orientierungspunkte, um die vielen neuen Informationen einzuordnen und zu speichern. So sollten ADHS-Betroffene
- sich mit dem Arbeitsweg vertraut machen,
- sich mit der Umgebung vertraut machen – Gebäude, Kantine, Toilette, Ruheräume, Einkaufsmöglichkeiten,
- und ein Organigramm des Betriebs/der Abteilung ausdrucken. Namen und Fotos von wenigen, wichtigen Personen einfügen.
- Und: Die Stellenbeschreibung in ein Überblickschema umwandeln und grob skizzieren.
Die Lernkurve ist bei Personen mit ADHS häufig langsam – Wissen über den Unterschied von ADHS und Nicht-ADHS kann laut Lachenmeier genutzt werden, um die Lernkurve zu beschleunigen. Im Kern geht es darum, bewusst vom ersten Tag an wichtige Dinge zu bestimmen und sich zu merken:
- Notieren Sie sich von Beginn an wirklich alles mit – direkt im Moment
- Filtern sich sich in den ersten Wochen die drei wichtigsten Informationen des Tages und merken Sie sich diese. Drei bis vier Minuten Zeit dafür reichen aus
Um die Selbstwahrnehmung zu stärken, hilft es, ebenfalls drei positive Aspekte des zurückliegenden Arbeitstags festzuhalten – und zusätzlich auch einen, bei dem man sich verbessern möchte
Auch Vorgesetzte können am Anfang nervös werden – weil die Lernkurve langsam ist. Lachenmeier rät Personen mit ADHS, im Vorfeld mit der Führungskraft darüber zu sprechen .
Beispielsweise könnte man sagen: „Mir ist es wichtig, die Aufgaben hier völlig korrekt zu erfassen. Ich möchte nichts übereilen und falsch machen. Deswegen bin ich zu Beginn etwas zögerlicher als andere und brauche vielleicht etwas mehr Zeit als andere, bis ich alles sicher überblicke. Aber sobald ich mich eingearbeitet habe, können Sie sich voll und ganz auf mich verlassen.“
Führungskräfte wiederum sollten nicht nur das Label „ADHS“ in den Mittelpunkt stellen. Beschäftigte mit ADHS wollten kein Mitleid und nicht geschont werden. Vielmehr geht es um mehr Zeit für die Einarbeitung – und Vertrauen.
Haben Sie weitere Tipps?
Das geht alles in eine ähnliche Richtung. Einmal die Aufgaben des Betroffenen durchgehen und ihm nicht mehrere Mails hintereinander schicken, wo dann immer noch etwas hinzukommt. Selbst wenn sich dadurch gar nichts groß an der Aufgabe ändert, haben manche Personen mit ADHS dann den Eindruck, dass sie nun viel mehr erledigen müssen, da jeder einzelne Input einen ungebremsten Assoziationsbaum triggert. Aber das ist natürlich individuell, fragen Sie Ihren Mitarbeiter: Funktioniert es für dich besser, wenn du dir jeden Morgen eine Liste mit Aufgaben holst? Oder ist es besser, wenn du nach jeder erledigten Aufgabe eine neue bekommst? Genauso ist es beim Thema Homeoffice: Manche können sich dort besser konzentrieren, da die Ablenkung fehlt, die Geräusche, die Kollegen. Andere sind eher intrinsisch abgelenkt, von ihren eigenen Gedanken und Assoziationen, haben Mühe, sich eine Struktur zu geben – denen hilft eine Großraumbüroumgebung unter Umständen dabei, sich zu konzentrieren.
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Sie plädieren stark für eine konstruktivere Betrachtung von ADHS. Der Blick sei zu sehr auf Dysfunktion gerichtet. Leidet man nicht an ADHS? Manche Unternehmen sind für bestimmte Jobs ja sogar stark daran interessiert, Menschen mit ADHS anzuheuern.
Wenn man nur auf die Defizite schaut, dann leidet man überdurchschnittlich an einer ADHS. Logischerweise gibt es Schwierigkeiten und diese bekannten Konzentrationsprobleme. Ich persönlich kann mir keine Namen merken, dafür kenne ich jede Automarke. Das meiste Leid entsteht, wenn man nicht weiß, wie eine ADHS tickt. Und sich dann selbst für unfähig hält. Denn sehr gefährlich ist der Fehlschluss ADHS-Betroffener, sie seien minderwertig oder doof. Das blockiert und ist unnötig. Wichtig ist, zu verstehen, wie die eigene ADHS funktioniert. Denn wenn einen ADHSler etwas interessiert, kann er sich länger und besser konzentrieren als jemand, der keine ADHS hat. Die Fokussierung kann dann sehr stark sein, alles andere wird ausgeblendet. Und das kann für eine Aufgabe ein Riesenvorteil sein, sie wird besonders sorgfältig, ideenreich, innovativ und schnell erledigt. Es gibt viele ADHSler, die in Hochleistungsjobs arbeiten.
Was heißt das letztendlich für Führungskräfte, wenn sie Aufgaben verteilen? Sollen sie bewusst langweiligen Routinekram rausnehmen, nur möglichst spannende Tätigkeiten vergeben?
Das ist eine Gratwanderung. Es gibt keinen Job, der nur interessant sein kann, das ist auch nicht die Aufgabe eines Unternehmens. Es geht vielmehr darum, das Arbeitsumfeld grundsätzlich so zu gestalten, dass es möglichst spannend bleibt und dass gewisse Arbeiten besser durchführbar sind. Beispielsweise kann durch eine starke Identifikation mit der Aufgabe, dem Vorgesetzten oder dem Unternehmen ein ADHSler auch die Phasen mit weniger interessanten Aufgaben gut meistern. Das kann gefördert werden.
Ist es für Personen mit ADHS schwieriger, Führungskraft zu werden? Schließlich, das beschreiben Sie in Ihrem Buch, können sie ein besonderes Innovationspotenzial entwickeln, gründen häufig Start-ups.
Das stimmt. Das rührt häufig auch aus der reduzierten Impulssteuerung – heißt, sie sind häufig impulsiver, was ein Faktor für geschäftlichen Erfolg sein kann. ADHSler können also häufig gut sprechen oder vortragen, das ist auch ein Grund, warum unter Ihnen viele Moderatoren oder Kabarettisten sind. Allerdings kann das auch dazu führen, dass sie ungeduldiger zuhören oder andere unterbrechen. Oder sie reden sich versehentlich in Rage, geben vielleicht sogar vertrauliche Informationen preis. ADHSler, bei denen die Impulsivität nicht übermäßig ist, die ihre Assoziationsbreite kreativ nutzen können und kommunikativ sind, sind häufig besonders gute Führungskräfte – das ist wieder sehr individuell.
Transparenzhinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 1. Oktober 2022 veröffentlicht. Wir zeigen ihn aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.
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Author: Tasha Roberts
Last Updated: 1702424162
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